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Österreichische Identitäten und die EU-Wahl

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Wenn ich wissen will, wie DIE Österreicher denken, dann rufe ich meine Mutter an. Ich brauche keine soziologischen Untersuchungen, keine Statistiken oder Straßenumfragen, meine Eltern sind das beste Barometer, um zu erfahren, in welcher Stimmung sich die österreichische Seele befindet. Dem Volk auf's Maul schauen, nannte man das früher.

Als ich anrufe, um zu fragen, wie es ihnen mit der spektakulären Regierungskrise in Österreich geht, lacht mein Vater nur laut auf. Meine Mutter kommentiert: 

"Wie kann man nur so blöd sein?"

Sich erwischen lassen wiegt offensichtlich schwerer als das eigentliche Verbrechen.

"Die (FPÖ - mit deren Ideen meine Eltern durchaus sympathisieren) haben nicht einmal die Wahlplakate (für die EU-Wahl) geändert. Da steht immer noch 'Gegen den Ausverkauf Österreichs'. Alle lachen die aus."

So das Urteil meiner Mutter.

"Aber ihr geht doch am Sonntag wählen?" fragte ich.

"Nein! Auf keinen Fall!"

Ihre energische Ablehnung überrascht mich. Ich protestiere ein wenig, doch sie fährt mir über den Mund.

"Nein, ich bin keine Europäerin. Ich bin Österreicherin. Obwohl, in letzter Zeit weiß man auch nicht mehr, was das ist: Österreicher. Die (hier die EU) wollen doch nur alles kontrollieren. Denen sind wir doch total ausgeliefert. Damit habe ich nichts zu tun. Damit will ich nichts zu tun haben!"

Hier breche ich meine Befragung ab, ihre Meinung ist klar und aus Erfahrung weiß ich, dass mein Vater ähnlich oder sogar extremer denkt. 

Ich finde es schade, dass meine Eltern sich nicht als Europäer fühlen können. Alles, was für mich zur Selbstverständlichkeit geworden ist - offene Grenzen, freier Arbeitsmarkt, europaweite Sozialversicherungsabkommen und der Euro -, ist für meine Eltern ohne Wert. Angesichts ihrer Lebensgeschichte nimmt das nicht Wunder. Die österreichische Identität hat sich in den letzten hundert Jahren zu oft geändert und war zu oft bedroht.

Meine Großeltern kamen alle noch im österreichischen Kaiserreich zur Welt und wurden vom Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise traumarisiert. Sie besaßen nie ein eigenes Auto, zum Teil nicht einmal eigenen Grund und Boden. Der Vater meiner Mutter musste noch in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts nach drei Jahren Volksschule diese verlassen, um am väterlichen Hof zu arbeiten. Selbst die Bitte des Pfarrers, den klugen Jungen doch ein wenig länger in der Schule zu lassen, wurde von meinem Urgroßvater kategorisch abgelehnt, etwas, das mein Großvater sein Leben lang bedauerte. Meine Eltern wurden dann mitten im Zweiten Weltkrieg geboren und blieben ihr Leben lang von den damaligen Ereignissen und der Nachkriegszeit traumarisiert. Sie haben als Kinder gehungert und Angst gehabt. Aber sie konnten in den 50er Jahren immerhin einen ordentlichen Beruf lernen, meine Tante durfte sogar Hauptschullehrerin werden. In meiner Familie war das schon ein gewaltiger Aufstieg. Erst in den 60er Jahren wurde das Leben sicherer und ab den 70er Jahren stellte sich ein bescheidener Wohlstand ein. Meine Eltern besaßen ein Haus, krisensichere Jobs, konnten sich ein Auto leisten, auch einen Farbfernseher, und auf Urlaub fuhr die ganze Familie sogar nach Italien oder Griechenland. 

Zu der Zeit war es gut, ÖsterreicherIn zu sein. Man lebte ziemlich ruhig und von einem starken Sozialstaat behütet auf einer unscheinbaren Insel inmitten der Wogen des Kalten Krieges. Die Angst vor einem tatsächlichen Krieg war immer da, und ist in den Köpfen meiner Eltern bis heute präsent, jetzt, wo sie auf die Achtzig zugehen und fast ihr ganzes Leben lang in Frieden gelebt haben. Sie denken nicht, daß dies irgendetwas mit der EU zu tun hat, während das für mich ein logischer Gedanke ist, aber ich bin ja auch Zeugin einer anderen Zeit. Für uns Kinder waren neun oder zwölf Jahre Schulbildung etwas ganz normales, es gab auch die Möglichkeit auf die Universität zu gehen.  Mein Cousin (der Sohn der Lehrerin) und ich konnten ohne finanzielle Behinderung oder familiäre Unterstützung ein Studium absolvieren, so sehr hatte sich die Lage der österreichischen Bevölkerung im Laufe des Jahrhunderts verbessert.

Den Beitritt zur EU mochten meine Eltern von Anfang an nicht. Der Verlust des Schillings - für sie Symbol von Stabilität und Wert - traf sie hart. Alles wurde teuerer, ein beängstigender Vorgang für Leute, deren Eltern die Weltwirtschaftskrise nur mühsam überstanden hatten, und dann ging immer mehr das "Eigene" verloren, wie das, was sie als besonders österreichisch empfanden. Im Fernsehen hörte man immer mehr Kartoffel und Tomate statt Erdäpfel und Paradeiser, überall gab es plötzlich EU-Normen und Regeln, Dinge wurden gesetzlich verankert, die vorher eher dem Gewohnheitsrecht unterworfen gewesen waren. So musste der alte Schnapsbrenner aus dem nächsten Dorf sein geliebtes Hobby und kleine Einkommensquelle aufgeben, weil er seinen Schnaps nicht mehr in irgendwelchen recycelten Flaschen abfüllen durfte, sondern EU-genormte hätte verwenden müssen, eine viel zu teurer Investition. 

Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 brach Europa auf wie eine knusprige Brotrinde. Meine Generation von Österreichern, die in der fatalen Sicherheit mit Stillstandscharakter der 70er Jahren aufgewachsen war, empfand die 80er als Aufbruch und dann die 90er als Befreiung von alten Zwängen. Plötzlich standen uns die Tore zu Welt sperrangelweit offen. Ich z.B. hatte kein Interesse an Karriere oder Kindern, lieber reiste ich, sah mir die Welt an und feierte Party auf vier Kontinenten. Wir reisten nach Prag und St. Petersburg, nach Spanien und in die USA, nach Thailand und Indonesien, manche Freunde schafften es sogar bis Australien und Afrika. Je weiter man weg fuhr, desto schwieriger wurde es zu erklären, wo Österreich lag. "No kangaroo", sagten wir oft und fragten dann, um den Unterschied noch deutlicher zu machen, "Mozart?" 

 

Da war es viel einfacher "Europa" als Antwort auf die Frage, woher man komme, zu geben. Wir pflegten Freundschaften mit Menschen rund um den Globus, während meine Eltern vielleicht mal Freunde aus einem anderen Bundesland hatten, oder auch einmal auf einer Reise ein deutsches Ehepaar ganz sympathisch fanden. Für meine Eltern waren die Italiener noch suspekt und die Jugoslawen Schmarotzer, außer natürlich die, die man persönlich kannte, das waren hartarbeitende Leute wie sie selbst. 

Die Menschen meine Generation hingegen wurde durch den Fall der Mauer und dem Zusammenwachsen von Europa zu Europäern gemacht. Wir lernten, neben einer nationalen Identität, die vor allem durch Auslandsaufenthalte erfahrbar wurde, auch ein europäisches Selbstverständnis zu entwickeln. Die EU war ein Gewinn für uns, sie gab uns Freiheit und die Möglichkeit einer interessanten Lebensgestaltung. Noch viel europäischer als ich fühlt sich aber diese junge Polin, die ich vor kurzem kennen gelernt habe. Gerade mal Ende Zwanzig lebt sie in Berlin, hat einen tollen Job als Informatikerin bei einem erfolgreichen Startup und will demnächst einen Ägypter heiraten. Den hat sie beim Erasmus-Studium in Deutschland kennengelernt. Das wichtigste Ereignis ihres jungen Lebens war der EU-Beitritt Polens 2004. Zur EU-Wahl fährt sie nach Polen, ihr Heimatdorf liegt nur eine Dreiviertelstunde von Berlin entfernt, nahe dem, was man doch noch als nationale Grenze bezeichnen muss. Meine polnische Freundin wird grün wählen, weil der Braunkohleabbau die Gegend um ihr Dorf in eine beängstigende Mondlandschaft verwandelt hat, und sie hofft, dass die EU Möglichkeiten findet, bessere Umweltstandards in Polen durchzusetzen. Diese Ansicht teilt sie nur mit wenigen Polen. Sie denkt nicht, dass ihre Eltern, die in meinem Alter sind, zur EU-Wahl gehen werden. Die haben noch ein kommunistisches Polen erlebt und fühlen sich unter einer stark führenden Hand wohler als im chaotischen Europa. Über sich sagt sie jedoch:

"Hier und da, das ist alles eins für mich." 

In ihrem Kopf existiert die nationale Grenze zwischen Polen und Deutschland gar nicht mehr. Sie fühlt sich an beiden Orten zu Hause und versteht die EU-Skeptiker nicht. Ihr ganzes Leben ist nur durch EU-Bedingungen möglich. Emotional bin ich ihr näher als meinen Eltern, denn auch mein Leben ist in dieser Form nur durch die EU-Freiheiten und deren Beständigkeit möglich. 

Dann denke ich über die Leute nach, die so fühlen wie meine und ihre Eltern, für die die EU nur Schlechtes bedeutet und die ihre Hoffnungen auf einen starken Nationalstaat setzten. Diese Menschen haben keine europäische Identität entwickelt, sie haben Angst um ihr nationale Selbstverständnis und blicken ihrem Empfinden nach in eine unsichere Zukunft. Für sie ist das Leben in der EU kein Gewinn, während ich und die junge Polin das als großes Plus ansehen.

Diese beiden Seiten stehen sich also jetzt gegenüber und ringen nicht nur bei dieser EU-Wahl um die Identität von Nation und Europa. Die Frage ist, bleibt die EU so lange bestehen, bis der Generationenwechsel eine Verfestigung einer europäischen Identität erreichen kann, oder entscheiden die Angst vor Fremden, die Verunsicherung anderer Religionen gegenüber und nationale Identitäten über ihr Schicksal?

 

Viele der eu-spektischen Menschen sehnen sich wieder nach einem leicht identifizierbaren Führer, nach weniger Einmischung von außen und nach einem klaren Schuldigen für die Probleme in ihrem langweiligen Leben. Der Umgangston wird rüde und haßerfüllt, ähnlich wie in den 30er Jahren, höre ich immer wieder Leute sagen. 

"Der Kickl ist ein kleiner Hitler," sagt meine Mutter noch bei diesem Gespräch über die österreichische Regierungskrise. 

"Es ist gut, dass der jetzt weg ist."

Sie weiß noch, was so einer wie der Hitler anrichten kann, sie hat es noch am eigenen Leib erfahren. Wenn ihre Generation nicht mehr da ist, wer wird dann noch von den Schrecken des Krieges erzählen? Die syrischen Flüchtlinge können uns davon berichten, die aus dem Jemen auch, dann die afghanischen und die somalischen, ebenso wie die aus der Ukraine und aus Nigeria. Was aber ein Weltkrieg den Menschen antut, das wissen nur noch Leute aus der Generation meine Eltern, die nach dem Krieg froh waren, dass sie neutral sein konnten. Sie klammerten an die österreichische Identität, vor allem um sich so von den Deutschen absetzen zu können. Österreich war ein kleines, armes Opfer von Hitler und keiner hatte von nichts gewusst. Kein Wunder, dass Siegmund Freud aus Österreich stammte. Wir sind Meister im Opfer-Sein und Verdrängen, siehe Ibizagate-Video und Ergebnis der EU-Wahl. Bis hin zu der Absurdität, dass der Strache jetzt nach Brüssel gehen darf, und eine Luxusleben auf Kosten der Institution haben kann, an der er gar nichts gut findet

Angst macht mir der Gedanke, was mit und in Europa passiert, wenn solche Leute, noch mehr Einfluß und Macht gewinnen, wenn Dummheit und Ignoranz die EU kaputt machen und uns erneut in einen Krieg auf europäischen Boden führt. Mir bleibt im Moment nur die Hoffnung, dass meine Eltern das nicht mehr erleben müssen. Wenn sie schon keine Europäer sein können, dann sollen sie doch in Frieden ihren Lebensabend verbringen können. 

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