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Nr. 28: Die Macht der Masse 

In der Steinzeit rotten sich die kleinen schmächtigen Menschen zusammen und brachten es fertig, gemeinsam ein so großes Tier wie ein Mammut zu erlegen. Das allein demonstriert die Macht der Masse. Heute benötigen wir die Horde nicht mehr um an Nahrung zu kommen, doch die Masseneffekte und Annehmlichkeiten funktionieren ungebrochen. Am schönsten kann man die Macht der Masse am Fußballplatz beobachten. Es ist ein zumeist ungefährlicher Ort, an dem man das Gefühl des beschränkten und isolierten Ichs verlieren und Teil von etwas Größerem werden kann. Hier kann man wunderbar das erhabene Gefühl des Großen und Ganzen spüren. Das herrliche Gefühl, dem mickrigen, oft machtlosen Ich-Bewusstsein entronnen zu sein, macht das Sein in der Masse so begehrenswert. Im Schutz der Masse können wir versteckte oder auch unterdrückte Emotionen ungehemmt ausleben. Hat mein Arbeitskollege mich mit seiner Unfähigkeit verärgert, hat mein Mann genörgelt oder haben die blöden Politiker mich in Wut versetzt, dann kann ich im Fußballstadium auf den Schiedsrichter schimpfen, den Nebenmann lautstark ein Arschloch nennen oder einfach nur meine Meinung über die Unfähigkeit der Spieler kundtun. Diese Katharsis ist erlösend und tiefgehend. Das erleichterte „Uff“, das sich meiner Brust entringt, wenn der Ball knapp am Tor vorbei geht, wird von tausend anderen Kehlen verstärkt. Ich bin nicht allein mit meiner Emotion. Ich bin Teil eines übermächtigen Wesens, damit werde ich dieses übermächtige Wesen. Das Selbst ist aufgelöst, der Verstand ist ausgeschaltet und mein Es darf endlich einmal jubeln, weil es sich stark und mächtig fühlt. Endlich einmal bin ich WER, dazu unschlagbar, unzerstörbar und unverwundbar wie Gott. Wir sind dann so viele, dass der Einzelne nicht mehr zählt und vor nichts mehr Angst haben muss. Die Engländer sagen: There is safty in numbers, also es liegt Sicherheit in der Menge. Das ist auch der Grund, warum Flüchtlinge sich zu Karawanen zusammenschließen.

 

Die Gefahr solcher starken Gefühle liegt darin, dass es uns auch jeder Verantwortung entbindet. Wenn die Masse beschließt, einen Menschen zu lynchen, dann wird jeder, der dagegen protestiert, gleich mit-gelyncht. Die Emotion ist dann so stark, dass ein Einzelner sie kaum aufhalten kann. Selbst wenn man alleine für sich keinen Mord begehen würde, so kann das Erlebnis der Macht in der Masse diese Hemmschwelle rasch überwinden. Ich tue es ja nicht alleine, ich trage nicht alleine Verantwortung, sondern alle tun es, also muss es richtig sein. Dass die Masse nicht immer recht hat, zählt in diesem Moment nicht. Die Masse hat kein Gewissen, moralisches Empfinden oder ethnische Standards. Der vernunftbegabte Mensch wird in der Masse zum Tier, das nur seinen Instinkten und Lüsten folgt. Die Gründe dafür sind – außerhalb der Masse – leicht zu erkennen, innerhalb der Masse aber schwer zu widerstehen. So ist die Masse, selbst auf einem Fußballplatz, ebenso faszinierend wie furchtbar anzusehen. 

 

Ähnlich stark empfinden wir die Wucht der Masse bei einem Musikkonzert. Hier sind es eher positive Emotionen, die geteilt und durch die Masse verstärkt werden. Wir singen geliebte Lieder mit, die unseren emotionalen Zustand genau treffen oder ausdrücken, und unsere dünne, häßliche Stimme wird durch die anderen tausendfach verstärkt. Alle Gefühle von Angst, Einsamkeit, Liebe, Verlust, Schmerz und Verzweiflung werden in der Musik und in dem Text ausgedrückt und alle um mich herum empfinden das gleiche. Wir tanzen wild, lassen dem Körper freien Lauf, alle Konventionen des guten Benehmens sind aufgehoben, der Alkohol oder andere Drogen enthemmen uns, befreien uns, machen uns frei. Das ist ein erhebendes und beglückendes Erlebnis.

 

Jede Art von Gruppengefühl, von Zugehörigkeit erzeugt in uns diese Verbundenheit zur Welt, zu anderen Menschen und schlußendlich zu uns selbst. Wie Robinson Crusoe aufgezeigt hat, ist der Mensch nicht gern allein. 

Jetzt, in der Pandemie, wo Nähe die Gefahr in sich birgt, den anderen anzustecken und im schlimmsten Fall, umzubringen, fehlen all diese Katalysatoren wie der Fußballplatz oder das Musikkonzert für die Verarbeitung starker Emotionen. Über das letzte Jahr hinweg habe ich immer mehr beobachtet, wie die Leute angespannter und ungeduldiger werden. Wir sind gezwungen, Abstand zuhalten, es gibt weniger Umarmungen, wir dürfen uns nicht in Gruppen treffen und ein Massengefühl wie auf einem Fußballplatz oder in einer Konzerthalle hat seit einem Jahr keiner mehr erlebt. Wir können unsere starken, oft unterdrückten Emotionen nicht mehr auf diese Weise ausleben. Das ist einer der negativen Effekte der Coronavirus-Krise. Welche psychische Auswirkungen das hat, werden wir in den nächsten Jahren sehen. In der Zwischenzeit empfehle ich, hin und wieder in den Wald oder auf das Dach zu gehen und sich seinen Frust einmal ordentlich von der Seele zu schreien. 

 

AAAhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh! 


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