Die Ankunft der Aquarius in Valenica

17/06/18

9.30h

Normalerweise gehe ich sonntags nicht an den Strand, aber ich wollte gerne spazierengehen und dachte, wenn ich früh genug komme, dann wäre es noch schön ruhig. Doch es ist ein heißer Tag, strahlender Sonnenschein, und deswegen haben viele Leute die gleiche Idee wie ich. 

Sonntage am Strand von Valencia sind – wie am Bild zu sehen – keine so schöne Sache. Die halbe Stadt da ist und jeder Flecken nahe am Wasser ist belegt. Jeder will an seinem freien Tag in die Nähe der kühlen Fluten sein, das muss man ausnutzen, wenn man schon den Luxus hat, in einer Stadt mit Strand zu wohnen. Also schlängle ich mich zwischen hunderten anderen Strandspaziergängern und im Wasser herumspritzenden Kindern durch, mit Musik in den Ohren ist es trotzdem genießbar.


10.30h

Soviel kann man am Strand sehen:

Ein tätowierter Vater macht im feuchten Sand liegend ein Foto von seiner süßen, kleinen Tochter, die sehr ernsthaft in einem Loch buddelt. Eine Mutter baut geduldig mit ihren Kindern eine Sandburg, während eine andere ihren Sohn anbrüllt, sofort herzukommen. Eine ältere Frau liegt traurig auf ihrer schicken Liege auf dem Bauch und fragt sich, warum andere soviel Glück haben, während ihr Mann früh an Darmkrebs sterben und ihr Sohn nach London ziehen musste. Eine Schwangere macht glücklich lächelnd ein Selfie von ihrem dicken Bauch, während daneben ihr Mann mit dem einjährigen Sohn spielt. Ihre größte Sorge ist, dass sich das Baby in der kommenden Woche drehen muss, sonst könnte es eine Steißgeburt werden.


11h

In der Ferne sieht man die Kräne des größten Containerhafen Spaniens, wo auch heute am Sonntag Container be- und entladen werden. Über dem Hafen kreist ein Helikopter, ist ein kleiner schwarzer Punkt, der mal näher kommt, in der Luft stehen zu bleiben scheint und dann wieder abdreht. Er ist zu weit weg, als dass man ein Rotorengeräusch hören könnte. Normalerweise kreist kein Helikopter über dem Hafen, doch heute Morgen ist das Flüchtlingsschiff „Aquarius“ nach tagelanger Irrfahrt auf dem Mittelmeer in Valencia eingetroffen. Helikopter und Polizeit sorgen dafür, dass jetzt alles mit den Flüchtlingen ordnungsgemäß und nach Vorschrift abläuft.

Während die Leute von Valencia in der Sonne braten und versuchen, ihre fast ausnahmslos weiße Haut so braun wie möglich zu bekommen, werden die meist schwarz- oder dunkelhäutigen Flüchtlinge einer nach dem anderen von Bord gebracht, medizinisch versorgt, registriert und dann in eine Flüchtlingsunterkunft gebracht. 


11.30h

Im Fernsehen habe ich gesehen, wie die Flüchtlinge der Aquarius gestern gefeiert haben, als die spanische Küste in Sicht kam, und sie erleichtert begriffen, dass diese Reise endlich ein Ende haben würde. Die von der Hilfsorganisation SOS Méditerranée gecharterte „Aquarius“ hatte vor einer Woche 629 afrikanische Migranten, die vor der libyschen Küste auf verschiedenen Booten unterwegs waren, aus Seenot gerettet. Nachdem Italien und auch Malta der „Aquarius“ die Einfahrt in ihre Häfen verweigert hatten, erklärte sich Spanien zur Aufnahme bereit. Bei der mehr als 1500 Kilometer langen Überfahrt nach Valencia kämpften das Schiff zum Teil mit meterhohen Wellen, viele Leute wurden seekrank, auch das Essen wurde knapp. Jetzt können sie endlich an Land gehen.


12h

Ich trinke an der Beach Bar einen Eiskaffee und frage mich, was jetzt mit den Flüchtlingen passieren wird.

Im Flüchtlingslager sitzen sie dann wochen- oder sogar monatelang fest, werden wie Gefangene behandelt, weil sie das Verbrechen begangen haben, ein besseres Leben zu suchen. Wenn sie abhauen, dann sind sie zur Illigalität und damit zu Armut, Protitution, Drogen und Kriminalität verdammt. Bleiben sie im Lager, dann droht Abschiebung ins Heimatland, alltäglicher Rassismus, auch Armut, und die Frage, warum man das alles auf sich genommen hat. Vermutlich ist die Antwort immer, weil dieses Leben trotzdem noch besser ist, als das, welches sie hinter sich gelassen haben.


12.30h

Da ist die schwangere Nyarout, die ihren dreijährigen Sohn an der Hand über die Planke  führt. Ihr Mann zu Hause im Sudan wurde bei dem Versuch, ihre Vergewaltigung durch Soldaten zu verhindern, erschossen. Sie weiß nicht, wer der Vater des Kindes in ihrem Bauch ist, aber sie hat beschlossen, dass es das ihres Mannes ist. Sie will zu ihrer Schwester nach Paris, das ist die einzige lebende Verwandte, die sie noch hat.


12.45h

Hinter ihr geht ein 14jähriger Junge aus Eritrea. Er weiß nicht, wo er ist und wohin er geht. Er weiß nur, dass er, seit er auf der Aquarius war, keinen Hunger mehr hatte. Sein älterer Bruder war ins Wasser gefallen und neben dem Schlauchboot, mit dem sie von Lybien aus aufgebrochen waren, ertrunken. Mohamed konnte nicht schwimmen, es gab keine Rettungswesten und die Wellen waren zu hoch. Es war seine Idee gewesen, nach Europa zu flüchten. Ende des Jahres wäre Mohamed achtzehn geworden und sie wollten ihn zum Nationaldienst einziehen. Dieser Dienst ist für arme Jungen vom Land praktisch unbefristet und beschränkt sich nicht nur auf Militärdienst, es konnte auch gut sein, dass er auf Jahre hinaus in einer Mine oder auf dem Bau Frondienst leisten musste. „Komm mit,“ hatte Mohamed zu seinem kleinen Bruder gesagt, „du bist sowieso als nächster dran.“ Ihre Mutter hatte sehr geweint, als sie weggingen. Zu seiner Freundin hatte der Bruder gesagt, er würde sie in spätestens zwei Jahren nachholen, dann könnten sie heiraten und ein Familie gründen. Das Mädchen und die Mutter würden jetzt umsonst auf Nachricht warten, denn der Junge hat keine Ahnung, wie er eine Nachricht in sein Dorf schicken könnte. Als er nach Papieren gefragt wird, zuckt er hilflos mit den Schultern.


13h

Ibrahim kann kaum glauben, dass er jetzt tatsächlich europäischen Boden betritt. Er ist zwanzig und aus Nigeria. Er hat Papiere bei sich, die hat er im Flüchtlingslager in Kamerun bekommen, wo seine Mutter und seine beiden kleineren Schwestern immer noch leben. Vor zwei Jahren kam Boko Haram in ihr Dorf, zündeten die Häuser an und schlachteten die Leute mit Macheten ab. Ibrahim sah, wie seinem Vater die Kehle durchgeschnitten wurde. Seine Mutter und Schwestern konnten davon laufen, aber ihn erwischten sie. Er wurde so schwer verletzt, dass man ihn für tot hielt und in eine Grube warfen, die sie dann mit Erde zuschütteten. Zu seinem Glück kamen die Schwestern zurück, um zu sehen, ob sie noch etwas retten konnten. Sie entdeckten das Blut und die Fliegen und gruben ihren Bruder wieder aus. Sie schleppten ihn bis zur nächsten Stadt, wo er vier Monate im Krankenhaus verbringen musste. Sein Arm ist immer noch lahm, doch er kann gehen, und die Haare sind wieder über die Narben am Kopf gewachsen. Seine Mutter wollte nicht, dass er wegging, als die Schlepper ins Lager kamen und den Leuten die Überfahrt nach Europa anboten. Im Schlauchboot hatte er gedacht, es wäre besser gewesen, auf seine Mutter zu hören, doch jetzt, da er an Land gehen kann, denkt er, dass es richtig war. Jetzt kann er sich ein neues Leben aufbauen und seine Familie aus dem Flüchtlingslager holen. Das hofft er.


17h

Die Hitze des Tages flirrt immer noch über den Strand. Etliche Familien beginnen Sonnenschirme, Spielsachen und Handtücher einzusammeln, Kinder zu rufen, und Kleidung über die noch feuchten Badesachen anzuziehen. Sie alle gehen jetzt nach Hause, fahren mit ihren Autos zum Abendessen in ein Restaurant, duschen sich mit trinkbarem Wasser, und ein jeder wird in seinem eigenen Bett schlafen, vielleicht sogar in seinem eigenen Zimmer. Am Montag gehen sie zur Arbeit oder zur Schule, beklagen sich über den Verkehr und die steigenden Lebensmittelkosten, zwei- bis dreimal am Tag essen sie sich satt und werfen überflüssige Lebensmittel weg. Die eigenen Probleme sind immer am größten, die der anderen interssieren keinen.


18h

Die Flüchtlinge sind heute froh, dass sie nicht am Deck des Schiffes kampieren müssen, sondern ein Feldbett und eine Decke für sich haben werden. Es gibt genug zu essen, sauberes Wasser und einen Arzt, den man bei Schmerzen um Medizin fragen kann. Es gibt die Versicherung, dass sie jetzt einmal für einen Monat sicher sind. Sie haben überlebt, im Moment zählt nur das. Viele Menschen waren heute glücklich in Valencia. Und ich höre mir diesen Song an:

 

When the moon is in the Seventh House

And Jupiter aligns with Mars

Then peace will guide the planets

And love will steer the stars

This is the dawning of the age of Aquarius

 

When will it dawn?

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